August 2017

 

„Wahrnehmung hört nicht beim Sehen mit den Augen auf. In jeder Wahrnehmung entsteht ein Wissen über Zusammenhänge, das von sich selbst überrascht wird. Daher erzeugt Wahrnehmung mehr als ein Spiegelbild der Wirklichkeit. Ich glaube, das Schwerste an der Kunst ist es, für dieses Mehrsehen oder Mehrwissen einen Platz innerhalb der Sätze selbst zu finden, so dass etwas Unausgesprochenes entsteht. Ich nenne es ein Irrlauf im Kopf, in dem die Sätze anders mit mir sprechen als nur mit ihren Wörtern.

Für die Besitzer der Wirklichkeit ist Wahrnehmung immer schon suspekt gewesen. In allen gewesenen und heutigen Diktaturen beanspruchen die Besitzer der Wirklichkeit die Deutungshoheit über die Wahrnehmung.

Oft kommt der Anfang des Totalitären harmlos daher, als ginge es nur um den guten Geschmack, um die Verletzung der Gefühle, die Gewöhnung an einige Grenzen, über die man sich im Schreiben oder Malen nicht hinwegsetzen dürfe. Und dann kommt Schritt für Schritt immer noch eine Grenze hinzu. Die Zensur wollte immer schon nicht nur Bücher und Bilder, nicht nur Kunst verbieten, sondern die Wahrnehmung der Welt, aus der heraus die Kunstwerke entstanden sind.“

Herta Müller, 19. August 2017, Auszug aus ihrer Eröffnungsrede „Ein Ausweg nach innen“ zur diesjährigen Ruhrtriennale 

 

Link zur gesamten Rede:

https://www.ruhrtriennale.de/de/blog/2017-08/ein-ausweg-nach-innen-festspielrede-zur-eroeffnung-der-ruhrtriennale-2017-von-herta