Kunstbetrachtung im Dialog, Januar 2019
In der Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner – Erträumte Reisen“ in der Bundeskunsthalle Bonn in privatem Auftrag.
Ernst Ludwig Kirchner (1880 – 1938) ist als Mitbegründer der Künstlergemeinschaft „Die Brücke“ (1905) einer der bekanntesten Vertreter des deutschen Expressionismus, der vor dem 1. Weltkrieg eine ganz neue Formen- und Ausdruckssprache entwickelte. Kirchner schuf aufgrund seiner besonderen biographischen Situation ein ausgesprochen vielgestaltiges Werk. Der breiten Öffentlichkeit sind immer noch vorwiegend seine Arbeiten aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg bekannt, während seine später in der Schweiz geschaffenen Bilder immer noch ein wenig im Schatten der Davoser Alpen liegen.
Das war für uns Grund genug, mit einem Spätwerk aus dem Jahr 1930 in die Kunstbetrachtung einzusteigen. Einflüsse von Pablo Picasso wurden sofort geltend gemacht, Beobachtungen zur Flächigkeit der Bildanlage und Verfremdungen der figürlichen Darstellung bis hin zu psychologisch wirksamen Strukturproblemen waren auszumachen.
Diesem Exkurs ins Spätwerk folgte dann eine spannungsvolle Gegenüberstellung zweier „Problembilder“, die den kuratorischen Einstieg in die Ausstellung markieren und für einigen Diskussionsstoff sorgten, weil sie uns unsere heutige, zwiespältige Rezeptionshaltung bewußt machten. Es ging um die Darstellung der kindlichen Fränzi im Atelier (1910) und um die sogenannte „Negertänzerin“ (1909-11/1920).
In die Ausstellung kuratorisch gelungen integriert, konnten wir uns dann anhand von Photos, die von Kirchner selbst gemacht worden waren, einen Einblick in seinen Atelieralltag in Dresden verschaffen. Der freizügige Umgang mit der eigenen Nacktheit, das künstlerische Arbeiten mit farbigen Modellen und die Anwesenheit der Kindermodelle ergaben auch hier eine Reihe von Diskussionspunkten.
Erst auf Fehmarn kamen wir angesichts der 1913 gemalten „Akte im Strandwald“ ein wenig zur Ruhe. Hier waren Kirchners „ertäumte Reisen“ besonders gut zu erfahren, denn scheinbar lag Fehmarn für Kirchner gefühlt auf dem Breitengrad von Tahiti.
Doch schon das nächste Bild, auf dem Kirchner sich 1914 als ausgegrenzten und leidenden Trinker darstellt, brachte die Betrachtung wieder zurück in Kirchners seelische Abgründe, die unter anderem auf Alkohol- und Tablettenmissbrauch beruhten, begründet durch immerwährende Angstzustände – angesichts der Grauen des 1. Weltkrieges ein gutes Stück weit nachvollziehbar.
Mit einem vermeintlich friedfertigen Bild aus der Schweiz (1925/26) endete unser Rundgang dann wieder in der Davoser Zeit. Ein Doppelprträt von Ernst Ludwig Kirchner und seiner Lebensgefährtin Erna Schilling zeigt Kirchners völlig neue Bild- und Farbbehandlung, gleich einem Startschuss in seine zweite Werkhälfte.
Abschließend möchten wir unseren privaten Auftraggebern für ihr Vetrauen in die Möglichkeiten des entschleunigten Blicks danken. Es war – besonders auch für uns – einmal wieder eine vertiefte Auseinandersetzung mit einer Reihe von Werkaspekten, die im Rahmen eines vielstimmigen Gesprächs zum Klingen kamen und erst so eine nachhaltige Wirksamkeit erzielen.
Olaf Mextorf + Nicole Birnfeld
Links zur Ausstellung:
https://www.bundeskunsthalle.de/ausstellungen/ernst-ludwig-kirchner.html
https://www.randomhouse.de/Buch/Ernst-Ludwig-Kirchner/Katharina-Beisiegel/Prestel/e539002.rhd
https://www1.wdr.de/kultur/kunst/ludwig-kirchner-ertraeumte-reisen-bundeskunsthalle-bonn-134.html
https://www.dw.com/de/ernst-ludwig-kirchner-berauschte-sich-am-fremden-ohne-je-zu-reisen/a-46313116
https://rp-online.de/kultur/kirchner-ausstellung-in-bonn_aid-34730299
links zu Aspekten im Werk von Ernst Ludwig Kirchner:
http://www.zeit.de/2010/18/Kirchner
https://www.youtube.com/watch?v=CECOgoQiU8c
https://www.youtube.com/watch?v=a_rBDn5uAas
https://www.youtube.com/watch?v=8IUErLYo5iY
https://www.tagesspiegel.de/kultur/die-gefaehrtin/497940.html
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46094024.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Lina_Franziska_Fehrmann
https://www.nzz.ch/fragwuerdige_rollenspiele-1.8572080