Heutzutage stürmen täglich mehr Bilder und Informationen auf einen durchschnittlichen Bürger ein als vor 150 Jahren in seinem ganzen Leben. Unserer Wahrnehmungsfähigkeit aber hat sich nicht mit gleicher Geschwindigkeit weiterentwickelt.
KulturKenner – NRW-Kultur in ihrer Vielfalt, 01/2010, 3
Was geht noch?
Das Eingangszitat belegt eine mediale Überforderung, die wir vermutlich alle kennen. Doch gilt das auch für den Bereich der Kunst und der Kunstbetrachtung? Denn wer möchte sie missen, die Sonder-Ausstellungen, die uns im wahren Sinne des Wortes „erschöpfend“ über Themen, Künstlerpersönlichkeiten oder kunsthistorische Zusammenhänge informieren? Und selbstverständlich hat dieses Format seine Berechtigung.
Dennoch sind wir oft kaum mehr in der Lage die Fülle des Gesehenen zu bewältigen und die Eindrücke sinngebend einzuordnen. Und selbst die kenntnisreichste Führung hat immer auch die Funktion eines Katalysators, der Prozesse beschleunigt und verdichtet, um die Vielzahl an Informationen überhaupt fassbar und wenigstens in Ansätzen erlebbar zu machen.
Die Verweildauer vor Einzelobjekten ist üblicherweise kurz bemessen. Die durchschnittliche Fixierungszeit beträgt 8 – 9 Sekunden.
Markus Köhl: Schule des Sehens, in: kunst:art, Nov./Dez. 2009, 30
Deshalb „der entschleunigte Blick“!
Wir kennen den Konflikt zwischen engagiertem Interesse einerseits und dem Wunsch nach vertieftem Erleben andererseits gut. In unserer Tätigkeit als Kunstvermittler erleben wir immer wieder genau diesen Spannungszustand. Und dann beobachten wir, dass Museums- und Ausstellungsbesucher geradezu erleichtert auf Gesprächsangebote reagieren, die dem reinen Informationsfluss eine andere, persönliche Dimension hinzufügen. Daraus – und damit gegen den Trend zu immer mehr, immer größer, immer schneller – ergab sich die Idee, einmal einen entschleunigten Blick zu wagen.
Unser Ziel ist der intensive Austausch zwischen Werk und Betrachter, bei dem es zunächst darum geht, inne zu halten, um sich auf die eigene Wahrnehmungsfähigkeit zu besinnen. Denn der entschleunigte Blick ist immer auch ein selbstbestimmter Blick.
Erst im Moment des Innehaltens wird das Kunstwerk bewusst wahrgenommen und als ein Gegenüber erlebt. Diese Begegnung kann Freude, sogar Glücksgefühle auslösen, aber auch Irritationen, Unverständnis oder gar Abwehr. Doch gerade diese Spannungszustände führen zu einem intensiveren Kunsterlebnis, wird hier doch deutlich, wie eng unsere Reaktionen auf künstlerische Positionen mit unseren persönlichen Erfahrungen und Haltungen zusammenhängen.
Das Betrachten von Kunst und der Austausch über deren Wirkung führen immer wieder zu einer Sensibilisierung und Intensivierung der eigenen Wahrnehmung. Dabei kommt es zu einer kreativen Aneignung des Gesehenen durch einen bewusst gemachten Akt des Sehens.
Die Kunst ist für den modernen Menschen eine der zentralen Resonanzsphären: In der Begegnung mit ihr werden wir oft im Innersten ergriffen, berührt, in Schwingung versetzt. Kunst ist das Mittel, mit dem wir die Welt „zum Singen bringen.“
Hartmut Rosa: Hechelnde Politiker, crashende Finanzmärkte, chaotisches Schwingen, Burn-out, ewiges Leben (Interview), in: Die Kunst der Entschleunigung – Bewegung und Ruhe in der Kunst von Caspar David Friedrich bis Ai Weiwei, Katalog Kunstmuseum Wolfsburg 2011
Konkret!
Ich verstehe mich als Vermittler und Moderator in einem vielschichtigen Wahrnehmungsprozess. Dabei werden Beobachtungen, Interpretationen und Bewertungen am Werk, bzw. Werkzusammenhang aktuell diskutiert. Die individuellen Sicht- und Sehweisen werden auf die betrachteten Werke fokussiert und gegebenenfalls um zusätzliche inhaltliche, formale und wissenschaftliche Aspekten ergänzt.
Mein Anspruch ist es, einen mehrstimmigen Austausch und die Rückbindung an das jeweilige Werk, bzw. die zu diskutierende Thematik zu gewährleisten. Dabei verschaffen wir uns gedanklich Raum, um einen intensiven und konzentrierten Diskurs innerhalb der Teilnehmerschaft zu ermöglichen.
Durch die Konzentration auf eine reduzierte Werk- oder Themenauswahl befreien wir uns von den üblichen zeitlichen Zwängen, die einer sinnstiftenden Kunstbetrachtung meist im Wege stehen. Erst mit dem entschleunigten Blick gewinnen wir die nötige Tiefe der Auseinandersetzung, in der Kunst mit all ihren Facetten Teil der eigenen Wahrnehmungserfahrung wird. So resultiert aus der Kunstbetrachtung eine Wirksamkeit, die auch der Stoff ist, aus dem unsere Motivation entsteht.